Meinungsartikel

Vorwort

Den folgenden Meinungsartikel hatte ich Ende September 2011 für das studentische Magazin Champus des AStA der Uni Saarland geschrieben. Er war eine Reaktion auf die Art und Weise, wie ohne Konsenswillen, und mit beträchtlicher Fristüberschreitung, das ausgesprochen schlampige 19. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes beschlossen wurde. Dieses Gesetz erweckt auch heute noch auf mich den Eindruck, dass es einzig zum Ziel hatte, das Anfallen zahlreicher Überhangmandate zu sichern. Aus einem Schönheitsfehler im Wahlsystem, den man zu Beginn der Republik als Randphänomen in Kauf genommen hatte, sollte ein Grundpfeiler werden. Ohne solide mathematische Grundlage, ohne Konsens, und ohne auf fundierte Expertenkritik und Warnungen zu hören.
In Folge habe ich mich sehr intensiv um eine Konsenslösung bemüht, meinen Vorschlag zum Parteiproporz nach getrennten Landeslisten an Herrn Prof. Dr. Pukelsheim gesandt, und dann mit ihm, Dr. Daniel Lübbert und Dipl.-Math. Kai-Friederike Oelbermann gemeinsam zur Direktmandatsorientierten Proporzanpassung weiterentwickelt. Auch wäre die Website Wahlrecht.Report-r.de mit einem vernünftigen Konsens im Bundestag wohl nie entstanden.
Obwohl ich durch die intensive Beschäftigung zumindest meine strikt ablehnende Haltung zu Überhangmandaten geändert habe, möchte ich den Artikel in der ursprünglichen Form widergeben. Meine damalige Perspektive ist einfacher nachzuvollziehen als meine heutige, stellt eine Bürgermeinung, keine Expertenmeinung dar.

Meinungsartikel vom 30. September 2011

Der Deutsche Bundestag wird mittels einer personalisierten Verhältniswahl gewählt. „Sie haben zwei Stimmen“ heißt es auf den Stimmzetteln. Mit der Erststimme werden Wahlkreisvertreter gewählt. Wer die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält, bekommt ein Direktmandat. Mit der Zweitstimme wählt man die Landesliste einer Partei. Den Parteien werden bundesweit proportional zu den Zweitstimmen ihrer Landeslisten Sitze im Bundestag zugeteilt. Wegen der Proportionalität der Sitzzuteilung spricht man von einer Verhältniswahl. Von den einer Partei zugeteilten Sitzen werden von ihr errungene Direktmandate wieder abgezogen, um die Proportionalität nicht zu stören. Es kann allerdings geschehen, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält als ihrer Landesliste Sitze zustehen. Ein solches Direktmandat ist dann nicht mehr durch den Sitzproporz gedeckt. Man spricht daher von einem Überhangmandat. Diese treten von Wahl zu Wahl vermehrt auf, da fast ausnahmslos CDU, CSU und SPD Direktmandate gewinnen, diese Parteien aber inzwischen eine deutlich geschrumpfte Anhängerschaft haben und entsprechend weniger Zweitstimmen erhalten.

Überhangmandate können parlamentarische Mehrheiten ändern. Es gab sie seit der ersten Bundestagswahl, jedoch fielen erstmals 1990 mehr als fünf Überhangmandate an. Bei der zweiten Wahl nach der Wiedervereinigung waren es bereits 16 Überhangmandate und bei der letzten Bundestagswahl 24 Überhangmandate, womit inzwischen jedes zehnte Mandat der aktuellen Profiteure CDU und CSU nicht mehr durch Listenstimmen getragen ist. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages rechnet in einem Gutachten mit bis zu 60 Überhangmandaten bei der nächsten Bundestagswahl.

Aus einem kleinen Makel erwuchs eine ernsthafte Bedrohung unserer politischen Kultur. Doch statt einer Lösung des Problems erleben wir ein Trauerspiel. Ob schwarz-gelbe oder rot-grüne Regierungen, beide fanden es genehm eine dank Überhangmandaten komfortablere Mehrheit zu haben, und waren in Folge bei deren Beseitigung reformunwillig. Die große Koalition hätte handeln müssen, denn schwarz-rot wäre fast ein Opfer der Überhangmandate geworden. Doch trotz eines 1997 gesprochenen Verfassungsgerichtsurteils, das anmahnt das Problem zu lösen, und einem Urteil von 2008, das wegen einer möglichen inversen Wirkung der Stimmabgabe eine Reform des Wahlrechts anordnete, blieb die große Koalition bis zu ihrem Ende untätig. Gleichwohl stand das Thema auf der Tagesordnung, wie der 2009 in den Bundestag eingebrachte Reformvorschlag der Grünen zeigt. Inzwischen ist bei der SPD die Erkenntnis erwachsen, sich verzockt zu haben. Sie hätte das Wahlrecht reformieren müssen, als sie Teil der Regierung war. Ihre jetzige Gesetzesinitiative folgt ebenso wie jene der Grünen und der Linken lobenswerterweise dem Gebot, Überhangmandate zu vermeiden. Ohnehin bergen die Reformvorschläge ausnahmslos aller Bundestagsfraktionen gute Ideen in sich, welche einem Konsens einverleibt werden könnten. Einen Vergleich der Gesetzesentwürfe der Fraktionen bietet www.goo.gl/aMjHq

Doch die zweite Regierung Merkel handelt wie ihre Vorgängerregierungen: Machterhalt ist oberstes Ziel, Fairness steht hinten an. Das ist in den meisten Politikfeldern hinzunehmen, aber das Wahlrecht ist ein Eckpfeiler unserer Demokratie. Beim Wahlrecht muss Fairness und nicht das Behaupten der eigenen Position oberstes Gebot sein. Wer hier allein den eigenen Nutzen optimiert zieht uns gemeinsam in den Abgrund.

Eine Abkehr vom Prinzip der Verhältniswahl ist ein Eingriff an der Schnittstelle zwischen Bürgern und jenen, die sie repräsentieren sollen; man muss von Skrupeln befreit sein, um sich auf diesem Wege einen Vorteil verschaffen zu wollen. Hätte es wirklich ernsthafte Folgen, wenn das künftige Wahlrecht zahllose Überhangmandate generierte?

Womöglich ändern Überhangmandate wie bislang nichts an den rechnerisch möglichen Koalitionen. Dann wird durch Überhangmandate lediglich die Regierungsmehrheit größer oder umgekehrt die Opposition gestärkt. Beides wäre unschön, da es die bundesweiten Kräfteverhältnisse nicht getreu wiedergibt, aber der Schaden bliebe alles in allem klein.

Nicht unwahrscheinlich ist aber, dass die rechnerisch möglichen Koalitionen durch Überhangmandate andere sein werden. Schon einmal war es knapp. 2005 landete die Union nur einen Prozentpunkt vor der SPD, doch diese errang zwei Überhangmandate mehr als CDU und CSU. Hätte die Union weitere drei Wahlkreise an die SPD verloren, wäre das Ergebnis gekippt, eine von Überhangmandaten getragene rot-schwarze Koalition statt der schwarz-roten wäre die Folge gewesen. Oder eine Staatskrise, aufgrund der mangelnden Akzeptanz der rot-schwarzen Variante. Doch selbst dieses Vertauschen der Rollen von Koch und Kellner wäre noch nicht das größtmögliche Übel. Schlimmeres könnte 2013 eintreten, falls CDU/CSU oder SPD um gesplittete Stimmabgabe werben. Beispielsweise eine Kampagne Erststimme CDU/CSU und Zweitstimme FDP, oder Erststimme SPD und Zweitstimme Grüne. Dann werden sehr viele Überhangmandate anfallen, gleichzeitig würden die Wähler erfolgreicher Direktkandidaten mit ihrer Zweitstimme ein zweites mal die Mehrheitsverhältnisse im Parlament beeinflussen. Bei diesem Szenario kann eintreten, dass die Bundestagsmehrheit nur von einer Minderheit der Bürger getragen wird, und die deutliche Mehrheit der Bürger sich in der Opposition wieder fände, wahrlich kein behaglicher Zustand. Man darf erwarten, dass in einem solchen Fall die politische Auseinandersetzung enorm an Schärfe gewinnen wird. Die Rhetorik wird von Attacken geprägt sein, welche der Regierung ihre Legitimität absprechen, und mehr und mehr Menschen an die Sinnlosigkeit politischen Engagements glauben lässt. Ein Abgesang auf unsere politische Kultur, welche wohl nicht immer schön, aber seit Jahrzehnten überwiegend friedlich war. Das ist leider nur mit Skrupellosigkeit oder Inkompetenz der Akteure zu erklären. Beides darf nicht unsere Zukunft bestimmen. Die Wahrnehmung und Diskussion dieses Themas in der Öffentlichkeit ist bisher aber weitgehend ausgeblieben. Und das, obwohl das Wahlrecht zunehmend zu dem Zweck gebraucht zu werden scheint, das Wahlergebnis im Sinne einer Minderheit willkürlich zu verzerren.

Leider sichert das Grundgesetz unsere Grundrechte ausgerechnet in diesem sensiblen Punkt mehr schlecht als recht, Verhältniswahlen werden nicht durch die Verfassung vorgeschrieben, und das gesamte Bundeswahlgesetz darf mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Auch ging das Verfassungsgericht beim Wahlrecht nie so weit, die vom Grundgesetz geforderte Gleichheit der Wahl unumstößlich als gleiche Zahl an Sitzen für gleiche Stimmenzahl zu deuten. Es hat sich sehr nahe an diese Auslegung herangewagt, mehrere Urteile damit begründet, doch nicht ohne zugleich festzuhalten, dass der Bundestag im Prinzip auch etwas anderes als eine Verhältniswahl beschließen könne.
Es ist edel und teilweise angebracht, dass das Gericht mehr fürchtet seine eigene Kompetenz zu überschreiten, als es die mangelnde Bereitschaft der Politik fürchtet, fair und staatstragend zu agieren. Aber damit vertraut es der Konsensfähigkeit der Bundestagsabgeordneten bedenklich viel. Abgeordnete, die mehrheitlich nicht davor scheuten, eine Dreijahres-Frist des Gerichts zu ignorieren, und uns in den Zustand zu manövrieren, ein höchstrichterlich als verfassungswidrig gebrandmarktes Wahlrecht zu haben.

So bleibt, um mit dem an den Innenausschuss des Bundestages gerichteten Appell des Mathematikers und Wahlrechtsexperten Prof. Dr. Pukelsheim zu schließen: "Egal was. Aber machen sie es gemeinsam!"

Nachtrag: Am 29.9.2011 hat der Bundestag mit den Stimmen von Union und FDP eine Reform des Bundeswahlgesetzes beschlossen. Die drei Oppositionsparteien haben eine Klage beim Bundesverfassungsgericht angekündigt, da die neue Regelung in etwa die gleiche Zahl an Überhangmandaten wie die jetzige erzeugt. Das vom Gericht bereits kritisierte „kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht des Bundeswahlgesetzes“ wurde nochmals unverständlicher. Angesichts der Tatsache, dass ungültige Stimmen sowie Stimmen für Parteien mit weniger als 5% nun die Parlamentszusammensetzung beeinflussen, darf bezweifelt werden, ob das Gesetz vor dem Verfassungsgericht Bestand haben wird.